Träume und Erwartungen
Wir Eltern haben oft genaue Vorstellungen wie ein Alltag mit dem neuen Familienzuwachs aussehen wird. Meist gestaltet sich dieser durch sehr harmonische Momente. Man versucht sich vorzustellen, wie das kleine Menschlein da im Bauch wohl aussehen möge, was es von Papa, was es von Mama habe. Man stellt sich friedvolle Kuschelmomente und sanftes in den Schlaf wiegen vor, wie der kleine Knäuel lachend mit uns im Arm tanzt und mit neugierigen Augen die wundervollen Seiten dieser Welt entdeckt.
Gerade bei dem ersten Kind denkt man nicht unbedingt an nächtelanges Schreien, Fütter – oder Stillprobleme. Noch seltener an einen Alltag mit Magensonde, Pulsoxymeter und Therapiespielzeug.
„Je genauer die Vorstellungen, desto höher die Erwartungen„
Till Ahrens schreibt in seinem Blog, dass Vorstellungen an Erwartungen geknüpft und das Gegenteil von Liebe sind. Denn Liebe nimmt an, ohne große Erwartungen an die Situation oder die Person zu richten. Folglich wären die Erwartungen ein EGO-Problem.
Ich möchte damit nicht behaupten, dass Eltern, die Erwartungen hegen, kaltherzige Egoisten sind, die nur an sich denken. Erwartungen sind menschlich. Dennoch regte es mich im Nachhinein zum Denken an.
Denn neben den vielen Vorstellungen die wir von unserem Alltag mit unserem Nachwuchs hatten, pflegten mein Mann und ich eine große Leidenschaft fürs Reisen in ferne Länder. Somit hatten wir dahingehend auch große Vorstellungen und Pläne, mit unserem Sohn, gerade in der Anfangszeit, die Vielfalt und Schönheit unserer Welt zu entdecken. Einer unserer größten Träume war es, eine Zeit lang in Afrika zu verbringen, da Jacop geschäftlich und ich einen kleinen Teil meine Kindheit dort verbrachte. Zusätzlich visualisierten und feuerten TikTok, Instagram und Co mit familiären Glücksmomenten unsere Vorhaben an.
Mit der Diagnose schienen unsere Träume, Vorstellungen und Erwartungen mit einem Mal zerschlagen und unerreichbar. Das einst warme Gefühl im Bauch wandelte sich in ein graues, unscharfes Bild gefolgt von tiefer Trauer und Hilflosigkeit.
„Ent-Täuschung“, oder anders: die Aufhebung unserer Erwartungen, nahmen Ihren Platz ein. Der Kern der Wahrheit, die Realität wurde uns knallhart ins Gesicht geschmettert.
Und aus Träumen und Vorstellungen wurden erst mal unendliche Sorgen um das Wohl unseres Kindes und dessen Zukunft.
Die Ängste neuer Eltern
Die ersten Tage und Wochen nach der Diagnose waren von Ängsten und Hilflosigkeit geprägt. Als neue Eltern eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen fühlt man sich oft überwältigt und allein.
Ich wandte mich an Foren und suchte den Austausch mit anderen Betroffenen, um ein Stück Stabilität zurück zu gewinnen, um herauszufinden, wie sie Ihren Alltag gestalteten, welche therapeutischen unser Sohn, welche finanziellen Unterstützungen wir erwarten konnten und aber auch ob es Erfahrungen dazu gab, mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen für längere Zeit ins Ausland zu gehen. Die Reaktionen diesbezüglich waren teils ermutigend, teils einbremsend. Es erweckte bei uns den Anschein, dass noch nicht viele den Schritt mit einem Kind mit PWS gewagt hatten.
Ein Perspektivenwechsel
Eines Tages erhielt ich jedoch eine Nachricht von einer Mutter welche mit ihrer Familie und ihren Kindern mit PWS in ein Drittwelt-Land ausgewandert war. Ich erinnere mich noch genau an Ihre einleitenden Worte: „Unbedingt (Weiter-)Machen!“
Sie erzählte mir von Ihren positiven Erfahrungen, die sie im Ausland mit Ihrer Familie und ihren Kindern machen durfte. Von den Therapieangeboten, der Unterstützung und der Vielzahl an Aktivitäten. Ihre Geschichte und Ihr Weg, Ihr Mut und Ihre Kraft, die aus ihren Worten sprudelte verankerten sich in meinen Gedanken und zeigten mir, dass man sich nicht von seinen und den Ängsten anderer einbremsen lassen sollte und vor allem wieviel Kraft und positiver Mindset aus Träumen geschöpft werden konnte.
Mir wurde bewusst, dass die Träume in Verbindung mit der „Ent-Täuschung“ etwas Gutes mit sich brachten.
Die Träume und unsere Pläne waren die Quelle der Kraft und Hoffnung. Die
„Ent-Täuschung“ gab uns die Chance unsere Träume realistisch, ausgerichtet auf und vereinbar mit den Bedürfnissen unseres Sohnes, zu verwirklichen.
An dieser Stelle möchte ich noch einen ganz besonderen Dank an meine Mutter richten, die uns von Anfang an darin bestärkt hat unsere Träume zu verfolgen.




